Die Geschichte vom Drachen und den Leuten, die NEIN sagten
von Birgit Reinartz
Es war einmal vor langer, langer Zeit ein kleines verschlafenes Dorf. Den Leuten dort ging es ganz gut, sie lebten seit langer Zeit in Frieden mit den Bewohnern der Nachbardörfer, hatten im Herbst eine reiche Ernte und selten Probleme mit Überschwemmungen, Stürmen und Feuersbrünsten.
Eines Tages jedoch kam ein Drache geflogen, ein großer mit Schuppen und glühenden Augen und einem gepanzerten Schwanz, den er hin und her schwang. Er fand eine Höhle am Berghang oberhalb des Dorfes und richtete sich dort häuslich ein. Die Leute waren erst ein wenig besorgt, aber der Drache schien friedlich zu sein und griff sie nicht an. Nach und nach kamen ihn einige der Dorfbewohner besuchen. Sie setzten sich zu ihm an den Höhleneingang und lauschten ihm, wenn er von den heldenhaften Taten früherer Drachen erzählte. Er berichtete, wie seine Vorfahren die Dörfer beschützt hätten vor allen möglichen Gefahren. “Welche Gefahren?”, wollte ein kleines Mädchen wissen. “Nun ja, zum Beispiel vor den Leuten aus anderen Dörfern, die neidisch waren auf die guten Ernten und schönen Häuser.” “Ach”, meinte der Vater des Mädchens da, “Da haben wir keine Probleme mit.”
“Seid ihr euch da sicher?”, fragte der Drache listig. “Ich bin auf dem Weg hierher über ein Dorf geflogen. Der Fluss hat einen guten Teil der Felder bei der letzten Überschwemmung zerstört. Sie werden bald Hunger haben.” So säte er den Zweifel in den Köpfen der Leute….
Was können wir tun, wenn die anderen Leute kommen und uns um Hilfe bitten? Ein paar können wir sicherlich helfen, aber was, wenn es immer mehr werden? Sie werden unser Essen haben wollen, einen Platz zum Schlafen, vielleicht sogar Arbeit und, oh je, am Ende werden sie hierbleiben und gar nicht mehr weggehen! Wovon sollen wir dann leben?
Die Leute sprachen mit dem Drachen. Ob er wohl einen Rat wüsste? “Ich verstehe eure Sorgen gut”, sprach das Untier. “Wenn es in meiner Macht steht, will ich euch beschützen.” Das freute die Leute ungemein. “Natürlich”, fuhr der Drache fort, “kann ich weniger jagen gehen, wenn ich immer über euerm Dorf Wache halten soll. Ihr müsstet mich ein wenig entlasten und mir regelmäßig etwas zu essen bringen, damit ich bei Kräften bleibe.” Die Leute überlegten, und es schien ihnen ein geringer Preis für ihre Sicherheit zu sein.
Fortan brachte jeden Morgen eine Gruppe von Männern und Frauen dem Drachen Obst, Gemüse, Fleisch und Brot. Sie nahmen ihre Aufgabe sehr ernst. Jeder im Dorf sollte seinen Beitrag leisten. Die Drachenfütterer beschlossen, dass sie für die anderen besser zu erkennen sein wollten. Fortan trugen sie eine Armbinde mit einem Drachenkopf. Wenn sie an eine Tür klopften, mussten die Leute ihnen Lebensmittel geben. Als die ersten das verweigerten, weil sie meinten, dass sie schon genug gegeben hätten, brachen die Drachenfütterer in das Haus ein und räumten die Speisekammer leer.
Der Drache lebte in Saus und Braus. Nun forderte er auch Bier, Wein und Kuchen. Die Drachenfütterer brachten ihm, was sie kriegen konnten. Und es kamen nur wenig Leute von draußen in das Dorf. Doch langsam leerten sich die Vorratskammern.
“Was können wir tun?”, fragte einer der Drachenfütterer den Drachen. “Es wird immer weniger.” “Ich verstehe eure Sorge”, sprach der Drache. “Obwohl ich mir Mühe gebe, euch zu beschützen, essen euch die fremden Leute alles weg. Sie achten nicht eure Gebräuche und lassen sich von euch durchfüttern.” Er reckte seinen langen Hals in Richtung des Nachbardorfs. “Ihr müsst die Last nicht alleine tragen. Euerem Nachbardorf geht es gut. Holt euch doch dort, was ihr braucht. Sollen Sie auch ihren Beitrag leisten. Und dann vertreibt das unnütze Volk. Es gibt andere, die sich darum kümmern können.”
Das hielten die Leute für eine gute Idee und sie gingen zurück ins Dorf und erzählten den anderen, was der Drache gesagt hatte.
Nun gab es ein paar Leute im Dorf, die den Drachen nicht so toll fanden und das Ganze mit skeptischen Augen beobachteten. Sie hatten sich schon häufiger mit den Drachenfütterern angelegt. Jetzt aber, als sie diese Nachricht hörten, gab es kein Halten mehr. Eine alte Frau stand auf. “Als ich ein Mädchen war”, begann sie mit brüchiger Stimme zu erzählen, “da war unser Dorf von einem Waldbrand betroffen, weil ein Feuer außer Kontrolle geriet. Das Feuer hatte nicht nur die Ernte vernichtet, sondern auch alle Häuser zerstört und sogar die Dorfbrücke, die über den Fluss zu den Nachbardörfern führte, war verbrannt. Wir saßen in der Höhle, in der jetzt der Drache wohnt. Das ganze Dorf, alle, die dem Feuer entkommen waren, saßen dort oben zusammengepfercht und wir wussten nicht, wie es weitergehen sollte. Wir hatten kein Dach über dem Kopf, kein Essen, keine Zukunft. Viele waren verletzt worden auf der Flucht vor dem Waldbrand. Wir waren verzweifelt.
Da kamen Leute aus den anderen Dörfern an den Fluss. Sie sahen das Problem und sie halfen uns. Sie bauten ein Boot, und brachten uns Lebensmittel, Medikamente und Werkzeug. Sie halfen uns, eine neue Brücke zu bauen und neue Häuser. Und sie brachten uns etwas von ihrem eigenen Saatgut, damit wir unsere Felder wieder bestellen konnten. Es dauert eine Weile, aber schließlich ging es unserem Dorf wieder gut.”
Einer der Drachenfütterer erwiderte: “Na und? Das ist doch schon so lange her. Damit haben wir jungen Leute nichts mehr zu tun. Für uns haben die anderen nie etwas getan. Der Drache -”
“Der Drache”, unterbrach ihn die alte Frau, und ihre Stimme wurde immer lauter und kräftiger, “der Drache ist der Einzige hier, der überflüssig ist. Bevor er hier war, brauchten wir keinen Schutz vor unseren Nachbarn. Und seit er hier ist, frisst er den ganzen Tag. Von dem, was der Drache frisst, könnten wir das das Dorf problemlos ernähren!”
Nun standen auch einige andere auf. “Das stimmt.”, sagte der Bäcker. “Zwei Drittel meiner Brötchen gehen an den Drachen.” “Und jeden Tag ein Schwein oder eine Kuh!”, ergänzt der Metzger. “Ich erinnere mich noch gut an die Frau aus dem Nachbardorf, bei der ich ein paar Wochen gewohnt habe, bis meine Eltern unser Haus wieder aufgebaut hatten.”, sagt ein älterer Mann.
Die alte Frau nickt ihm zu. “Ich weiß nicht, wie ihr das seht, aber von mir kriegt das verfressene Vieh keinen Happen mehr. Und ihr Drachenfreunde könntet euch auch mal lieber nützlich machen, anstatt den ganzen Tag die Leute zu schikanieren!” Die Drachenfütterer wollten sie aus der Menge ziehen, aber da schlossen sich andere Dorfbewohner wie eine Mauer um sie.
“Sie hat recht!”, erklang es aus der Menge. “Wir haben uns das schon viel zu lange gefallen lassen.” Die Drachenfütterer sahen ihre Macht schwinden, und sie bekamen Angst. Sie flohen zum Drachen, aber die anderen Dorfbewohner bewaffneten sich mit Heugabeln und Sicheln und allem, was gefährlich aussah und machten sich auch auf den Weg zur Höhle.
Als der Drache sah, wie viele es waren, erkannte er, dass er sie nicht alle verbrennen konnte. Er breitete seine Schwingen aus und floh. Die Drachenfütterer waren ganz kleinlaut und schworen, dass der Drache sie verzaubert hätte und an allem Schuld sei. Die Leute jubelten und freuten sich, dass sie das Dorf von den üblen Wesen befreit hatten. Nie wieder, schworen sie sich.
Doch in den Tiefen der Drachenhöhle, dorthin, wo kaum ein Mensch hinkam, dort hatte der Drache etwas hinterlassen. Ein Ei, ein Drachenei war es, das dort im Dunkel darauf wartete, bsi seine Zeit gekommen sei. Dann würde ein neuer Drache schlüpfen und wer weiß, ob es dann jemanden geben würde, der NEIN zu ihm sagte…
Diese Geschichte kann man natürlich einfach so erzählen. Aber sie lässt sich auch gut in eine Kinderandacht einbauen. Wer mag, kann einen Vergleich zwischen dem Drachen und den Leuten und der Geschichte von Thor und der Midgardschlange ziehen, auch wenn die letztlich schlecht ausgeht für beide Parteien.
Als Kernarbeit lässt sich anschließend gut gemeinsam ein Drache ‘töten’. Die Kinder können vorab jeder eine Lupe basteln als Symbol für die Wachsamkeit: Wo sieht man Unrecht, wo sehen die Kinder, dass der Drache sein Haupt hebt? Hier können die Kinder selber überlegen, was sie damit verbinden.
In der warmen Zeit kann man die Kinder anschließend mit Wasserpistolen ausrüsten, aufs Pflaster einen Drachen mit Straßenkreide malen (oder auf einen großen Bogen Papier, wenn kein bemalbarer Untergrund in der Nähe ist) und sie damit auf den Drachen schießen lassen. Ich bin zwar kein Freund von Waffen, aber hier geht es darum einen Drachen zu erlegen, und außerdem macht es den Kindern eine Menge Spaß. Das Wasser löst die Kreide auf und der Drache verschwindet.
Soll das Ganze drinnen stattfinden, kann man auf den Drachen auf Papier zurückgreifen und Holzschwerter in ihn hineinbohren oder ihn mit Bällen bewerfen, bis er kaputt ist.
Die Lupen nehmen die Kinder anschließend mit nach Hause, falls sie mal ein Drachenei sehen sollten 😉