Die Geschichte von einem kleinen Landgeist und einem verlorenen Hammer – nordische Götter für Kinder

Eines Morgens wollte Beorl, der Landgeist, seine Höhle verlassen, um ein bisschen frische Luft zu schnappen und eine Runde im nahegelegenen See zu schwimmen, doch er kam nicht hinaus. Direkt vor seinem Höhleneingang lag etwas. Es war riesig, schwer und hart, und alles Drücken, Schieben und Zerren half nicht. Schließlich nahm Beorl eine Schaufel und grub sich unter dem Ding hindurch. Draußen atmete er erst einmal tief durch. Was im Namen aller neun Welten war denn da bitteschön passiert?

Beorl besah sich das Ding genau: Es sah aus wie ein großer Hammer, mit einem riesigen Kopf aus Metall, in das schöne Muster eingraviert waren, und einem vergleichsweise ziemlich kurzen Stiel, der aber immer noch so hoch aufragte, dass Beorl nur mit Mühe das obere Ende erkennen konnte. Da habe ich ja noch mal Glück gehabt, dass das Ding nicht durch meine Höhlendecke gekracht ist, dachte sich der Landgeist. Aber wie werde ich es jetzt wieder los? Dieser Hammer kann da ja nicht liegen bleiben. So kann ich meine Höhle unmöglich weiter benutzen!

Beorl dachte nach. Etwas so großes wie dieser Hammer musste entweder einem Riesen oder einem Gott gehören. Die Menschen und das Geistervolk konnten mit einer so schweren Waffe gar nicht umgehen. Und Riesen hatte er in dieser Region schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Also musste ein Gott dahinterstecken.

Er wusch sich, denn nach der ganzen Buddelei war das wirklich nötig, und machte sich auf den Weg, um nach dem Besitzer des Hammers zu suchen.

Der Weg nach Asgard war nicht weit, und schon am Bifröst, der Regenbogenbrücke, traf Beorl auf den ersten Gott. Es war Heimdall, der die Brücke bewachte.

„Hast du einen Hammer verloren?“, fragte Beorl ihn. „Ich?“, fragte Heimdall erstaunt. „Nein, ich habe ein Horn, keinen Hammer.“ Und er zog ein großes Horn hinter dem Rücken hervor. „Siehst du? Aber hineinblasen darf ich gerade nicht, erst beim Weltuntergang.“

Doch er ließ den kleinen Landgeist über die Brücke gehen, damit er weitersuchen konnte.

Als Nächstes traf Beorl die Göttin Idun, die in ihrem Garten saß.

„Hast du einen Hammer verloren?“, fragte Beorl sie. „Ich?“ Idun lachte. „Nein, ich habe Äpfel, keinen Hammer. Was sollte ich wohl damit?“ Und sie pflückte einen Apfel und zeigte ihn Beorl. „Siehst du? Einer von denen hält dich lange gesund und munter! Die anderen Götter essen sie jeden Tag!“

Und sie schenkte Beorl, falls er unterwegs Hunger bekommen sollte.

Beim Weitergehen kam ihm Odin zu Pferd entgegen. Beorl hielt ihn an.

„Hast du einen Hammer verloren?“, fragte er ihn und wich dabei geschickt Sleipnirs acht tänzelnden Beinen aus. „Ich?“, dröhnte Odin mit tiefer Stimme. „Nein, ich brauche keinen Hammer. Ich habe meine Raben.“ Er pfiff, und zwei Raben kamen herbeigeflogen und setzten sich auf seine Schultern. „Darf ich vorstellen: Hugin und Munin! Sie fliegen für mich herum und erzählen mir, was auf der ganzen Welt geschieht!“

Dann ritt er weiter und ließ den Landgeist schnell hinter sich.

An einem Haus, an dessen Tür Fensal geschrieben stand, standen Türen und Fenster offen. Beorl klopfte an und trat ein. Im Herd flackerte ein lustiges Feuer, und daneben saß eine Frau, die er als Frigga erkannte. „Hast du einen Hammer verloren?“, fragte er sie. „Ich?“ Frigga schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe keinen Hammer, sondern eine Spindel.“ Sie griff in einen Korb neben sich, zog eine Spindel heraus und begann zu spinnen. Der Faden bauschte sich um die Spindel, und als sie sie los ließ, segelte die volle Spindel durch das offene Fenster, stieg zum Himmel auf und verwandelte sich in eine kleine Wolke.

„Oh!“, staunte Beorl, und ging weiter, bevor es noch zu regnen beginnen konnte.

Auf einer Wiese saß der Gott Frey und fütterte seinen goldenen Eber Gullinborsti mit Eicheln. „Hast du einen Hammer verloren?“, fragte Beorl ihn. „Ich?“, war Frey überrascht. „Nein, keinen Hammer. Ein Schwert, aber das habe ich nicht verloren, sondern meinem Freund Skirnir gegeben, damit er mir meine geliebte Frau bringt!“ Er lächelte verliebt. „Aber ich habe ja noch mein Schiff!“ Er zog ein Tuch aus der Tasche. Besonders beeindruckend sah es nicht aus. „Wenn ich es ins Wasser werfe, wird es zu einem großen Segelschiff, auf das alle Götter drauf passen.“

Beorl musste zugeben, dass das ein toller Trick war.

Es dauerte nicht lang, da kam ihm die nächste Göttin entgegen. Freya unternahm einen Ausflug mit ihrem von Katzen gezogenen Wagen. „Hallo! Hast du einen Hammer verloren?“, fragte Beorl und staunte über ihre Schönheit. „Ich? Einen Hammer?“ Freya schüttelte den Kopf. „Einen Hammer würde ich höchstens als Schmuckstück tragen, und da habe ich etwas viel Besseres.“ Sie zog ihren Umhang ein wenig zur Seite, und darunter funkelte eine wunderschöne Kette. „Ist sie nicht toll? Die Zwerge haben sie mir gemacht. Ohne Brisingamen gehe ich nirgendwo hin. Auch nicht in den Kampf. Man sollte die schönen Dinge im Leben viel mehr zu schätzen wissen, meinst du nicht?“

Beorl stimmte ihr zu, und dachte bei sich, wie schön es wäre, wenn er endlich diesen Hammer loswerden könnte.

Als Nächstes traf er auf den Gott Loki. Dieser schien sich gerade auszuruhen, aber er war sofort hellwach, als Beorl ihn fragte: „Hast du einen Hammer verloren?“ „Ich? Einen Hammer?“ Loki grinste schelmisch. „Nein, aber ich könnte einen gebrauchen. Warum?“ Beorl überkam ein merkwürdiges Gefühl. „Ach, nur so!“, antwortete er vorsichtig und ging schnell weiter. Irgendwas hielt ihn davon ab, dem Gott mehr zu erzählen.

Frustriert schüttelte er den Kopf. Jetzt suchte er schon den ganzen Morgen, und hatte immer noch nicht den Eigentümer gefunden. Wer mochte es bloß sein? Müde machte er sich auf den Heimweg. Kurz bevor er die Regenbogenbrücke erreicht hatte, stieß er auf einen Gott, der gerade von dort kam. An seinem wilden roten Bart erkannte Beorl Thor. „Hast du einen Hammer verlo-“, wollte er gerade fragen, als Thor ihm blitzschnell eine Hand auf den Mund presste. „Pssst!“, zischte der Donnergott. „Nicht, dass uns jemand hört!“ Er lockerte vorsichtig seinen Griff.

„Hast du meinen Hammer gefunden?“, hauchte er dann in Beorls Ohr. Der Landgeist nickte. „Er liegt vor meinem Höhleneingang und versperrt mir den Weg!“, erklärte er. Thor richtete sich auf. „Mjölnir ist mir gestern aus der Tasche gefallen, als ich ein Wettrennen gegen Loki gefahren bin. Wenn die Riesen erfahren, dass er weg ist, überfallen sie in Nullkommanichts Midgard und Asgard und stiften Chaos. Bring mich zu deiner Höhle, kleiner Landgeist! Lass uns die Welt retten!“

Er holte sein Ziegengespann und rasch hatten sie Beorls Höhle erreicht. Da lag er, der Hammer, und hatte sich nicht gerührt.

Thor strahlte, schlüpfte in ein paar Handschuhe und hob den Hammer hoch, als wäre er leicht wie eine Feder. „Da ist er ja, mein Mjölnir!“, freute er sich und ließ den Hammer einmal herabsausen. Donner hallte.

„Kleiner Beorl, ich danke dir!“

„Nichts zu danken!“, brummelte Beorl leise.

Thor lud ihn noch zu einem Ziegenbraten ein, um den Fund von Mjölnir zu feiern, aber Beorl war nach der ganzen Sucherei ziemlich müde. Er kroch durch den wieder offenen Eingang in seine Höhle, fiel aufs Bett und schlief ein, bevor der Gott wieder davon gefahren war.

 

Diese Geschichte ist dazu gedacht, jüngere Kinder (Kindergarten, Vorschule) mit den verschiedenen Göttern und Göttinnen der nordischen Herdkultur bekannt zu machen. Jeder wird kurz namentlich und mit einem Attribut oder einer Eigenschaft vorgestellt. Natürlich können nicht alle Götter vorkommen, sonst würde die Geschichte etwas sehr lang werden.

Dafür eignet sich die Geschichte aber sehr gut, um auch mit Bildern begleitet zu werden. Schade, dass meine Malkünste nicht ausreichen, sonst hätte ich daraus ein Bilderbuch gemacht.

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