Wie der Regenbogen an den Himmel kam oder Der Kampf zwischen Taranis und Cernunnos

Zu jener Zeit wanderten die die Götter noch oft über die Erde und lebten zwischen den Menschen. Taranis, der Donnernde, der Gott, der durch seine Regengüsse und Frühjahrsgewitter die Felder fruchtbar machte, streifte mit seinem Wagen umher und sah danach, dass alles seine Ordnung hatte.

Bei seiner Fahrt macht er einmal Halt in einem weiten Tal. Die Luft war mild, die Felder wurden langsam grün – Taranis war zufrieden.

Da ertönte ein Donnern und Brausen – und es stammte nicht von ihm! Überrascht und auch ein wenig verwirrt blickte er um sich.

In der Ferne, wo die Berge zu sehen waren, erhob sich im Flussbett eine hohe bräunliche Welle. Eine riesige Wasserwalze kam den Fluss herab und riss alles am Ufer mit sich. Zurück blieb ein schlammiger Sumpf, der weit über die Ufer des Flusses hinaus ins Land reichte. Gleichzeitig fielen orkanartige Regengüsse vom schwarz gewordenen Himmel.

Taranis runzelte verärgert die Stirn. Wo kam das her? Wer wagte es, dermaßen Chaos zu stiften und die Ordnung zu bedrohen? Er sprang in seinen Wagen und eilte durch die Sturmfront hindurch zum Himmel hinauf. Von hier oben hatte er einen besseren Überblick und da er ja selbst ein Sturmgott war, konnte ihm das Unwetter wenig anhaben.

Die Flutwelle war inzwischen weitergezogen und hatte weitere Landstriche verwüstet. Taranis sah, dass sie ihren Ursprung in den Bergen hatte, wo Schnee und Gletscher zu rasch geschmolzen waren und die Flüsse und Seen gefüllt hatten. Und er sah auch, wer dafür verantwortlich sein musste.

Dort, wo die Menschen mit ihren Äckern und Feldern nicht hinkamen, wo nicht mal mehr vereinzelt Almhütten standen, dort stand Cernunnos, sein alter Freund, und trommelte mit seinen Hufen, der der Grund bebte.

Taranis schüttelte besorgt den Kopf. War es wieder so weit? Cernunnos war der Herr der ungezähmten Natur, er hatte immer schon etwas Chaotisches, Unberechenbares an sich gehabt. Er herrschte auch über die Unterwelt und ihre Reiche des Todes. Gleichzeitig galt er als derjenige, von dem die Menschen sich Reichtum und Fruchtbarkeit erhofften. Während eines Großteils der Zeit war das auch so, doch gelegentlich zeigte sich Cernunnos von einer anderen Seite. Wie viele der Tiere, die ihm umgaben, gab es Zeiten, in denen er einen Wandel durchmachte und sich erneuerte. Und bis diese Wandlung vollzogen war, nahmen seine bedrohlichen Seiten aus alter Zeit zu und er wurde zu einer Gefahr für die Welt. Dann war er unruhig, unbeherrscht und zerstörerisch in seinem Wirken.

Der Donnergott nickte vor sich hin. Seine Aufgabe war es, Cernunnos durch diese Phase zu helfen und seine Kräfte in Schach zu halten. Rasch griff er nach seinem Blitzbündel und machte sich auf den Weg.

Cernunnos hörte das Donnern, als sich der Wagen näherte. Er verwandelte sich in einen Hirsch und floh in den Wald. Zwischen den hohen Kiefernstämmen war es für Taranis schwer, mit seinem Wagen durchzukommen. So spannte er sein Pferd aus, sprang auf dessen Rücken und nahm so die Verfolgung auf. Er warf mit einem Blitz nach dem anderen Gott, aber dieser war schon zu weit voraus, und der Blitz verfehlte das Ziel.

Cernunnos wähnte sich erst mal in Sicherheit. Sein Kopf mit dem Geweih juckte so fürchterlich, daher rieb er sich an einem dicken Stamm. Doch er hatte nicht mit Taranis’ Hartnäckigkeit gerechnet. Dieser war den Spuren gefolgt und seine Beute aufgespürt.

Cernunnos verwandelte sich erneut, diesmal in eine Schlange. So, glaubte er, könne er dem Gegner besser entgegentreten.

Taranis’ Pferd bäumte sich auf, als die riesige Schlange ihn umkreiste. Mehrfach versuchte der Donnergott seinen Gegner zu erwischen, aber Cernunnos wich immer wieder geschickt aus. Schließlich warf Taranis wieder einen Blitz, aber diesmal wandte er sich sofort in die Gegenrichtung – und Cernunnos hatte das Gleiche getan, um dem Blitz auszuweichen. So ritt Taranis mit voller Kraft über den mächtigen Schlangenkörper seines alten Freundes.

Cernunnos krümmte sich, aber die Hufe des Pferdes hatten gut gezielt und ihn fast betäubt. Mit letzter Kraft schälte er sich aus seiner Schlangenhaut und glitt in ein Loch in der Erde.

Der Orkan nahm ab und verwandelte sich in einen leichten, feinen Regen. Gleichzeitig erschien die Sonne hinter einigen Wolken und sandte zaghaft erste Strahlen zur Erde herab.

Taranis hob die zurückgebliebene Schlangenhaut auf und hob sie triumphierend über den Kopf. Die Schuppen schillerten in bunten Farben, rot, gelb, grün, blau. Der Donnergott warf sie in die Luft, wo sie hängen blieb und eine großen Bogen formte. Zufrieden betrachtete Taranis sein Werk:

„Bleib da unten, bis du wieder bei Sinnen bist!“, rief er Cernunnos zu. „In dieser Welt ist kein Platz für dein Chaos.“

So geschah es, und als die Flüsse letztlich wieder in ihre Betten zurückgekehrt waren, zeigte sich an vielen Orten, dass sie unerwartete Schätze an Land gespült hatten: Mancherorts war der Boden nun viel nährstoffreicher als vorher, an anderen Stellen waren Schiffswracks mitsamt ihrer verbliebenen Fracht zugänglich geworden und vereinzelt zeigte sich eine Goldader, wo vorher nur Stein gewesen war. So hatte sich Cernunnos doch noch als gewinnbringender Gott erwiesen.

Die Schlangenhaut blieb als Regenbogen der Erde erhalten, zum Zeichen dafür, dass die Ordnung das Chaos bezwungen hat.

Taranis aber kehrte zufrieden an den Himmel zurück.

 

Diese Geschichte ist von vorne bis hinten eine freie Schöpfung meinerseits. Für viele Kulturen gibt es den Mythos vom Kampf zwischen dem Donnergott und der Chaosschlange oder dem Drachen oder etwas Ähnlichem. Thor gegen die Midgardschlange, Indra gegen Agni, Perún gegen Veles – und bei den Galliern möglicherweise Taranis gegen irgendwen. Dass es sich dabei um Cernunnos handelt, ist meine Version, und sie funktioniert für mich nur, weil ich die Beziehung zwischen den beiden Kampfgegnern als eine freundschaftliche darstelle, eher eine Art Freundschaftsdienst als ein Kampf auf Leben und Tod.

Wahr ist, dass es Säulen gibt, auf denen ein Gott, der als Taranis/Jupiter identifiziert werden konnte, eine gigantische Gestalt mit Schlangenkörper niederreitet und besiegt. Wahr ist auch, dass der Gott Cernunnos als eine ambivalente Gottheit bezeichnet werden kann. Ceisiwr Serith hat dazu eine schöne Analyse geschrieben. Es gibt Geschichten, die Cernunnos über sein Geweih mit der Hirschgestalt in Verbindung bringen. Nirgendwo wird hingegen behauptet, dass Cernunnos sich in eine Schlange verwandeln kann. Er hält wohl eine Schlange in der Hand. Ich habe mir hier Elemente der slawischen Variante ausgeliehen. Wichtig war mir, dass Cernunnos nicht als der Bösewicht von Dienst erscheint, sondern das Chaos nur ein zeitweiser Aspekt seiner Persönlichkeit ist. Darum kann man ihn dennoch verehren und respektieren, und er kann mit Taranis befreundet sein. Was nun den Regenbogen betrifft, nun ja, das nordische Pantheon hat Bifröst, und mir kam die Idee, dass der Regenbogen für die Gallier bestimmt auch eine besondere Bedeutung gehabt haben muss.

Der schlafende Fürst unterm Gochfortzberg

Um den Gochfortzberg bei Uedem ranken sich mehrere Sagen oder Geschichten. Eine davon ist diese hier, die eine deutliche Lokalvariante des Kyffhäuser-Mythos ist. Ich habe sie nur in Stichpunkten gehört und hier dementsprechend ausgebaut. In manchen Sagenvarianten gilt der Schläfer unter dem Berg als Friedensbringer, in anderen wird er erscheinen, wenn der Weltuntergang beginnt. Tatsächlich hat man auf dem Berg Spuren einer Besiedlung gefunden. Allerdings könnte es sich dabei auch um römische Hinterlassenschaften handeln.Trotzdem ist es eine nette Deutung und fügt sich gut in den Reigen der schlafenden Könige ein. Die Bedeutung der Vögel für das Ende der bekannten Ordnung kennt man auch vom englischen Tower.

 * * *

Gleich hinter Uedem, auf dem Weg nach Xanten, liegt eine Anhöhe mit dem Namen Gochfortzberg. Früher ragte sie vorne spitz aufs Land hinaus, aber dieser Vorsprung ist schon vor langer Zeit eingebrochen. Über den Berg führen geheimnisvolle Hohlwege und in den Sträuchern an den Hängen nisten zahlreiche Vogelarten. Es heißt, dass oben auf dem Berg einmal ein Fürst seine Burg gehabt habe und dort mitsamt seinem Gesinde bestattet worden sei. Davon ist jedoch nichts mehr zu sehen.

Unsere Geschichte spielt vor einem Jahrhundert oder zwei, genau weiß ich es nicht. Die Technik war jedoch noch nicht allzu weit fortgeschritten, und wer in den Nachbarort wollte, der konnte dies mit dem Pferd oder zu Fuß erledigen.

So geschah es, dass der Schmied von Kervenheim an einem grauen Nebeltag im September in der Dämmerung von Uedem nach Hause gehen musste. Er hatte einen wichtigen Auftrag in Uedem erledigt, aber nun wurde es spät und er wollte heim. Er war ein großer, kräftiger Mann, und die Dunkelheit konnte ihn nicht schrecken.

Sein Weg führte ihn am Gochfortzberg vorbei. Seine Laterne irrlichterte in den Hohlwegen und warf wirre Schatten auf den Boden, denn der Wind wehte recht ordentlich und die Bäume bogen sich hin und her. In der Ferne hörte er einen Hasen aufschreien. Vermutlich hatte ihn eine Eule erwischt.

Mit einem Mal rauschte es um ihn und ein schwarzer Vogelschwarm stieg auf und umringte ihn.

Erschrocken sprang der Schmied ins Gebüsch und duckte sich zwischen die Brombeersträucher. Die Vögel kreisten noch eine Weile und stiegen dann langsam immer höher, bis sie im Nebel und der frühen Dunkelheit nicht mehr zu sehen waren. Ihr Krächzen hallte dem Schmied jedoch weiter in den Ohren. Während er versuchte, sich aus den Dornenranken zu befreien.bemerkte der Schmied plötzlich etwas Glänzendes zwischen den Brombeersträuchern, etwas, das er dort noch nie zuvor gesehen hatte. Er hob seine Laterne und tatsächlich – er hatte sich nicht getäuscht. Unter den Beerenranken verborgen lag eine Tür, und nicht irgendeine: Diese war mit schweren Eisenbeschlägen versehen, die sehr kunstvoll gestaltet, aber an vielen Stellen schon verrostet waren. Der Schmied nickte beeindruckt: Da hatte ein Kollege sehr gute Arbeit geleistet. Aber warum, fragte er sich sodann. Neugierig schob er weitere Ranken beiseite und bald hatte er einen Türgriff freigelegt.

Vorsichtig zog er an dem Griff. Halb rechnete er damit, dass ihm der Griff verrostet in der Hand liegen bleiben würde. Aber die Tür öffnete sich fast geräuschlos und ein dunkler Gang tat sich vor ihm auf.

Nun war unser Schmied kein Ire: Die Geschichten von Feenhügeln waren ihm nicht vertraut, und so folgte er seiner Neugier und trat in den Gang. Und tatsächlich: Nach einigen Schritten erkannte er in der Ferne einen hellen Schimmer, und bald tat sich vor ihm ein Raum auf.

Das Gemach schimmerte golden, und nicht von ungefähr: Der Boden war mit feinsten Teppichen ausgelegt. Münzen, Schmuck und goldene Trinkpokale stapelten sich in Regalen an den Wänden rund herum. Am beeindruckendsten war jedoch der goldene Thron in der Mitte des Raums.

Der Schmied staunte nicht schlecht, als er entdeckte, dass der Raum keineswegs leer war. Ein Mann saß auf dem Thron, ein uralter Mann mit einem langen weißen Bart. Und neben dem Thron stand ein anderer Mann in einer Diener-Livree, wie sie vor einer Ewigkeit modern gewesen sein mochte. Beide schienen zu schlafen, aber als der Schmied näher trat, regte der Mann auf dem Thron sich und schlug die Augen auf. Seine Gesichtszüge glätteten sich und mit einem Mal schien er um Jahre jünger geworden zu sein. Der Mann richtete sich auf, und nun sah der Schmied, dass er einen mit Edelsteinen besetzten Stirnreif trug. Ehrfürchtig erstarrte er, doch der Mann hatte ihn gesehen und winkte ihm, näher zu kommen.

„Wie lange habe ich geschlafen?“, fragte er mit volltönender Stimme. „Ich, ich weiß es nicht, Herr.“, stotterte der Schmied. „Wie bist du hierher gekommen?“ „Durch die Tür. Da war eine Tür im Gestrüpp. Ich schwöre, dass die noch nie da war. Aber auf einmal sehe ich da Metall schimmern und-“ „Schon gut.“, winkte der Mann ab. „Die Tür zeigt sich nicht jedem. Du bist mit der Magie des Eisens vertraut, nehme ich an.“ „Von Magie weiß ich nichts.“, gab unser Schmied zurück, bodenständiger Niederrheiner, der er war. „Aber ich bin ein Schmied. Da lernt man das eine oder andere über Eisen.“

„So ist es.“, stimmte der Mann zu. „Sage mir: Fliegen die Vögel noch um den Berg?“

Der Schmied dachte an den Vogelschwarm, der ihm gerade um den Kopf gesaust war. „Das kann man wohl sagen.“

Da seufzte sein Gesprächspartner tief auf und sagte: „Dann muss ich noch weiterschlafen. Meine Zeit ist noch nicht gekommen.“

Der Schmied stutzte ob dieser Aussage, und tausend Fragen schossen ihm durch den Kopf, aber der alte Mann schloss die Augen.

„Mein Diener wird dich sicher nach draußen geleiten. Leb wohl, mein guter Schmied!“

Der Diener verneigte sich aber nur knapp, nahm die Lampe des Schmieds und eilte voraus. Am oberen Ende des Gangs gab er ihm die Laterne zurück und reichte ihm überdies eine goldene Münze mit seltsamer Prägung. „Nehmt dies als Zeichen unserer Dankbarkeit.“

Dem Schmied war es nun doch unheimlich geworden und er beeilte sich, seine Schmiede in Kervenheim zu erreichen. Inzwischen war es stockfinster und regnete in Strömen.

Daheim schlief schon alles. Daher kroch er rasch unter die Decken und schlief ein. Er würde seiner Frau am Morgen alles erzählen.

Doch als der Morgen kam, und der Schmied in seine Tasche fasste, um die Goldmünze heraus zu holen, da war sie verschwunden. Er suchte alle Taschen ab und ging den Weg zurück bis zum Gochfortzberg, aber auch die Tür war nicht wieder zu finden. Ohne einen Beweis aber schien ihm selbst sein Erlebnis so abenteuerlich und an den Haaren herbei gezogen, dass es Jahre dauern sollte, bis er dieses Abenteuer jemandem erzählte. Nur ein paar graue Haare mehr schien es ihm eingebracht zu haben.

Die Tür aber blieb verschwunden, und den schlafenden Fürsten und seinen Diener hat seitdem niemand mehr gesehen. Und so soll es auch bleiben, bis die Vögel einmal aufhören, um den Berg zu kreisen.